Mickiewicz: Dichter der Polen

Mickiewicz: Dichter der Polen
Mickiewicz: Dichter der Polen
 
Adam Mickiewicz gilt als Initiator (1822) und Vollender der polnischen Romantik. Er hat Balladen, Romanzen, romantisch-historische Poeme, die szenische Dichtung »Die Ahnenfeier« (Teil 2 und 4, 1823; Teil 3, 1832), das große Versepos »Pan Tadeusz« (1834) und ein bedeutendes lyrisches Œuvre verfasst. Schon in den »Sonetten« (1826) visierte er jedoch eine neue Klassik und eine orientalisierende Stilisierung an. Teil 3 der »Ahnenfeier« knüpft zwar an die Tradition von Goethes »Faust« und Byrons »Manfred« an, geht aber mit seiner besonderen Mystik und seinen vielfältigen realistischen, »dokumentarischen« Partien weit darüber hinaus. Seine politischen Gedichte, die während des polnischen Aufstandes von 1830/31 entstanden, überschreiten die Romantik, ebenso das frührealistische Versepos »Pan Tadeusz« sowie die politisch-biblischen »Bücher des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft« (1832). 1836 publizierte Mickiewicz die »Sätze und Betrachtungen. ..«, meditative mystische Epigramme und Aphorismen in Versform.
 
Fortan trat der Dichter nur noch mit publizistischen und programmatischen Verlautbarungen an die Öffentlichkeit, mit denen er während des Vormärz, des »Völkerfrühlings« (1848/49) und des Krimkriegs (1854/55) auf eine religiöse, politische und soziale revolutionsartige Veränderung in Europa hinwirken wollte. 1848 organisierte er eine polnische Legion für die Revolutionskämpfe in Norditalien gegen das österreichische »Völkergefängnis«, im Krimkrieg war er 1855 in der Türkei - stilisiert zur Symbolfigur einer polnisch-kosakischen Legion, die auf osmanischer Seite gegen das russische »Völkergefängnis« kämpfen sollte. Erst nach seinem Tod 1855 wurde seine große, existenzielle Lyrik bekannt, die er in den Dreißiger- und Vierzigerjahren geschrieben, aber nicht publiziert hatte.
 
Mickiewicz ähnelt gewiss in manchem einem Typus von Nationalklassikern, wie ihn einmal die deutsche Kultur »erfunden« hat. Er übersteigt ihn aber durch seine Weltläufigkeit sowie durch sein besonderes mystisches und politisches Engagement. Romantiker ist er im Sinn der schlegelschen »progressiven Universalpoesie«: Von einer neuen Wirklichkeit der romantischen Poesie gelangt er zu einer Poesie der Wirklichkeit und vom »Wort« schließlich zur »Tat«, zur direkten Konfrontation mit der Wirklichkeit selbst. Für die polnische Kultur ist er der Dichter schlechthin geworden, der Dichter als der große Liebende, als der große Künstler der polnischen Sprache, der auch die einfachen Leute erreicht, und als Gewissen einer von der Historie schwer geprüften Nation.
 
1841 geriet der inzwischen zum Professor für slawische Literaturen am Collège de France in Paris ernannte, prominente Mann in den Bann des messianistischen »Propheten« Andrzej Towiański. Bis zu seinem Tod war er dessen oberster Gefolgsmann in der straff organisierten Sekte »Kreis der Gottessache«, welche die soziale und nationale Freiheit der unterdrückten Völker Europas durch die erwählten Völker Polen, Russland, Frankreich und Israel erwirken wollte. Da seine Vorlesungen zur offenen Agitation für die neue mystische Lehre gerieten, wurde er 1844 suspendiert. Als genialer Dichter wurde er zu seiner Zeit außerhalb Polens, Russlands und der anderen slawischen Länder vor allem in Frankreich wahrgenommen. Dagegen hielt sich das Junge Deutschland von diesem katholischen »Illuminaten« (= der Erleuchtete) eher fern, obwohl seine Vertreter den Widerstand gegen das Metternich-System mit ihm teilten. Als Autor der klassischen Weltliteratur des 19. Jahrhunderts ist Mickiewicz in allen osteuropäischen Kulturen, auch in der jiddischen und neuhebräischen Literatur bis heute anerkannt.
 
Mickiewicz wurde 1798 in einer polnischen Kleinadelsfamilie geboren, wahrscheinlich in dem kleinen Gut Zaosie bei dem heute weißrussischen Nowogródek. Zeit seines Lebens bezeichnete sich der polnische Nationaldichter als »Litauer«. Seine Heimat war Teil des Großfürstentums Litauen; dieses hatte bis kurz vor seiner Geburt zu dem alten polnisch-litauisch-ostslawischen Vielvölkerstaat gehört und war dann im Zug der gänzlichen Aufteilung Polens dem Russischen Reich einverleibt worden (1795). Polnisch blieb in Litauen aber zunächst allgemeine Verkehrs- und Amtssprache. Als Student in Wilna gründete er mit Freunden den »Philomathenkreis«, einen literarisch-ästhetischen Bildungszirkel, der auch ein verschwörerischer patriotischer Tugendbund war. Hier entdeckte Mickiewicz die Genieästhetik, die Werke Schillers, Goethes, die deutsche und englische Romantik sowie Dante, Petrarca, Shakespeare und die orientalische Poesie.
 
1824 wurden Mickiewicz und seine Freunde nach längerer Haft in Wilna wegen patriotischer Konspiration in die innerrussischen Gouvernements verbannt. In seiner russischen Zeit (bis 1829) entwickelte er sich dank der weltläufigen Atmosphäre der Puschkin-Ära zur bedeutenden, vielfältig umschwärmten, für Polen repräsentativen poetischen Persönlichkeit mit engen Kontakten zu den russischen Literaten der Zeit, darunter auch zu Puschkin selbst. Wichtige neue Werke entstanden und erschienen in Russland: die »Sonette«, die von Byron beeinflusste historische Verserzählung »Konrad Wallenrod« (1828) sowie zwei Bände »Gesammelte Werke« (1829) mit neuer Lyrik.
 
Nach dem Aufstand im November 1830 setzte eine Revolutionsregierung Zar Nikolaus I. als König von Polen ab und erklärte Polens Selbstständigkeit. Nach mehreren Schlachten wurde die polnische Revolution im Oktober 1831 niedergeschlagen. Mickiewicz beteiligte sich allerdings nicht persönlich an den Kämpfen. Ab 1832 wirkte er als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der polnischen »großen Emigration« mit Unterbrechungen in Paris. Mickiewicz hatte Kontakte mit wichtigen französischen Dichtern und Denkern der Zeit, die ihm schließlich zum Ruf an das Pariser Collège de France verhalfen.
 
1863 brach der letzte »romantische« polnische Aufstand gegen die russische Fremdherrschaft zusammen und damit ging auch jedes Vertrauen in »romantische« polnische Politik- und Sozialkonzepte verloren. Der neue Kulturbetrieb des Positivismus stutzte sich Mickiewicz zum würdigen, idealen Klassiker für den nationalen Kulturstolz zurecht. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs erlangte dieser wieder die besondere Zuneigung seiner Landsleute. Die nationalsozialistische Besatzungspolitik 1939 bis 1945 hatte die Vernichtung einer höheren polnischen Kultur zum Ziel gehabt. Der geistige polnische Widerstand richtete sich gerade an dem Klassiker auf, der von jeher alle Schichten anzusprechen vermochte.
 
Die Bindung der Polen an ihren großen Dichter überstand auch die Zeit der stalinistischen Kulturmanipulation (insbesondere 1949 bis 1955). Die ersten Regungen eines Tauwetters brachten ab 1955 Mickiewiczs »Ahnenfeier« wieder auf die bedeutendsten Bühnen des Landes zurück. Wichtige Gegenwartsautoren trugen zur Belebung der Mickiewicz-Tradition bei. Der Kampf um einen angemessenen Platz für Mickiewicz im Literaturunterricht für die Jugend Polens wurde zu einem wichtigen Motiv des intellektuellen Widerstands um die Solidarność-Bewegung. Hierbei ging und geht es auch um eine zukunftsfähige Einstellung zur Geschichte des alten polnischen Vielvölkerstaates, dessen Produkt der in Weißrussland beheimatete »Litauer« Mickiewicz war. Es geht um das Schicksal der Millionen aus Ostpolen verdrängten polnischen Menschen und um eine konstruktive Einstellung zu den heutigen Kulturen der Litauer, Weißrussen und Ukrainer, die als Nachbarn Polens von derselben Geschichte betroffen sind.
 
Prof. Dr. Rolf Fieguth

Universal-Lexikon. 2012.

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